Wandel in den Schweizer Teams von den Herren zu den Damen |
Die Resultate der WM haben bestätigt, dass sich das Orientierungslaufen sehr langsam entwickelt. Auch Talente brauchen einige Jahre, bis sie die Spitze erreichen. Jüngstes Beispiel dafür ist Lucie Böhm, die österreichische Weltmeisterin über die Kurzstrecke. Sie fiel erstmals 1994 an der Studenten-WM in der Schweiz auf, wo sie überraschend die Kurzdistanz gewann. An der «richtigen» WM 1995 belegte sie über dieselbe Distanz den 25. Platz. Jetzt steht sie, nach einem einjährigen Aufenthalt in Schweden, ganz oben. Alle, nicht nur die Österreicher, freuten sich über ihr Resultat. Damit ist ein neuer Verband, der noch nie eine WM-Medaille gewonnen und im OL bisher zum Mittelfeld gehört hat, in die Spitzengruppe gelangt. Ob er diesen Platz halten kann und ob der OL-Sport in Österreich dadurch Auftrieb erhält, wird sich weisen.
Im ganzen haben sich aber die Stärkeverhältnisse nur wenig verändert. Norweger und Finnen sind nach einer mehrjährigen Schwäche an die Spitze zurückgekehrt und bedrängen die Schweden. Gemeinsam haben die Nordländer auch dieses Mal den Löwenanteil an den Medaillen für sich beansprucht. Etliche andere Verbände sind deutlich schwächer geworden, etwa der britische oder der tschechische.
In der Schweiz ist die Führung von den Herren an die Damen übergegangen. Das gereifte Frauenteam hat erstmals die Erwartungen voll erfüllt. Die Spitze ist aber schmal, und gleichwertige Nachfolger sind nicht in Sicht, weder unter den Damen noch unter den Herren. Das zeigte sich, als der Einsatz Alain Bergers im Staffelwettbewerb diskutiert wurde. Mangels Alternativen blieb er im Team, konnte aber die erhoffte Leistung nicht erbringen. So fällt die Bilanz für die Herren ernüchternd aus: Mit zwei 16. Plätzen in den Einzelläufen und dem 5. Staffelrang stehen sie am selben Ort wie 1989, bevor die Periode mit den drei Staffelsiegen an Weltmeisterschaften begonnen hatte.
Es ist seit langem ein Ziel der Internationalen OL-Föderation, den Sport populärer und attraktiver zu machen. Mit wechselndem Erfolg wird um die Gunst der Medien und der Zuschauer gerungen. Im Vorfeld der WM war zu hören, dass neue Massstäbe in bezug auf die Attraktivität gesetzt werden sollten. Zu spüren war davon aber wenig. Einige Projekte sind offenbar im Sand verlaufen. So ist die Idee, die Bewegung der Läufer im Gelände dank elektronischer Ortung auf einer grossen Karte am Ziel ständig darzustellen, im Prinzip zwar realisierbar, aber teuer und erst in einigen Jahren einsatzreif.
Eine private Fernsehstation hatte Direktübertragungen von der WM mit gegen 20 Kameras im Gelände geplant. Die Bahnen waren dem angepasst worden, mit Konzessionen an Qualität und Fairness: gut sichtbare Posten im offenen Gelände und teilweise gleiche, einfache Teilstrecken für Damen und Herren. Bedauerlicherweise stellte der Sender aus wirtschaftlichen Gründen zehn Tage vor der WM seinen Betrieb ein.
So blieb es am Ziel bei den üblichen Informationsmitteln: einer grossen Resultattafel und einem Speaker, der Zwischenzeiten und Beobachtungen aus dem Gelände vermittelte. Der guten Stimmung unter den fachkundigen Zuschauern tat das keinen Abbruch.
In einer anderen Richtung verlief die Entwicklung erfolgreicher. Auf «jungfräuliche» Laufgebiete und übertriebene Geheimhaltung verzichteten die Veranstalter. Sie bezeichneten stadtnahe Wälder, wo früher schon Orientierungsläufe durchgeführt worden waren, frühzeitig als potentielle WM-Gebiete und sperrte sie für Training und Wettkämpfe. An der WM wurde ein Teil dieser Gebiete sogar zweimal benützt, was vor wenigen Jahren noch ein Sakrileg gewesen wäre. Ausserdem wurden vier öffentliche OL-Wettkämpfe durchgeführt, so dass alle Interessierten die Möglichkeit hatten, in den WM-Wäldern selbst auf die Postensuche zu gehen. Dadurch erhöhte sich die Anziehungskraft der WM wenigstens für OL-Insider, und es erschienen mehrere tausend Zuschauer zu jedem Lauf. Die Frage, wie OL für breitere Kreise besser präsentiert werden kann, bleibt aber offen. Damit verbunden sind Finanzprobleme, denn Sponsoren sind nur zu finden, wenn Zuschauer und Medien präsent sind.
Thomas Scholl |
Neue Zürcher Zeitung vom 19.8.1997