Von unserem Mitarbeiter Thomas Scholl
Die Erfolge an den OL-Weltmeisterschaften haben die Norweger selbstbewusst gemacht. Ihr Selbstbewusstsein droht freilich in Chauvinismus sich zu verwandeln, worunter die Schweizerin Marie-Luce Romanens schon zu leiden hatte. In der Organisation des Anlasses können die Gastgeber aber den Ansprüchen nicht immer genügen.
Grimstad, 15. August
Nach vier OL-WM-Wettbewerben haben Norweger sieben von dreizehn Medaillen gewonnen. Das hat ihr Selbstbewusstsein spürbar gestärkt. Ohnehin ist das Orientierungslaufen in Norwegen erfunden worden, dessen sind sich die Norweger bewusst. Sie haben ihre eigene Art, Orientierungsläufe zu organisieren, und lassen sich dabei nur ungern belehren. Als WM-Veranstalter treten drei lokale Klubs auf, deren Helfer zwar guten Willens sind, aber kaum Erfahrung mit internationalen Prüfungen haben. Vom norwegischen Verband im Hintergrund ist kaum etwas zu spüren.
So wurden zur Siegerehrung nur die Medaillengewinner aufgerufen, obwohl gewöhnlich auch die Läuferinnen und Läufer in den Rängen drei bis sechs ins Rampenlicht treten dürfen. An jedem Posten befindet sich sodann nur eine der elektronischen Quittungseinrichtungen, obwohl die Regeln zwei verlangen. Zum Aufwärmen vor dem Start stehen den Läufern statt eines Waldstücks oft nur eine Strasse oder ein Feld zur Verfügung. Die Abgabe von Karten an die Medienvertreter nach den Wettbewerben war zunächst nicht vorgesehen. Immerhin wurden einige Mängel behoben. Allerdings erweckten die Veranstalter keineswegs den Eindruck einer souveränen Organisation durch eine grosse OL-Nation.
Etwas zurückgesetzt fühlen sich die Damen in ihren Wettbewerben. Der Zeitplan ist so gestaltet, dass die Entscheidungen stets dann fallen, wenn die Prüfung der Herren noch im Gange ist. Just während der Siegerehrung der Damen tritt dann das Herrenrennen in die entscheidende Phase. So erhalten die Damen nie die ungeteilte Aufmerksamkeit der Zuschauer - eine überraschende Zurücksetzung in einem Land, das über lange Zeit und als eines der ersten in Europa eine Regierungschefin hatte.
Der Veranstalter hatte am Donnerstag regelkonform die Zielzeit Hanne Staffs von 25 Minuten und 56,90 Sekunden auf 25:56 abgerundet, diejenige von Marie-Luce Romanens von 25:57,07 auf 25:57. Die Schweizer Mannschaftsleitung entschloss sich nur zögernd zu einem Protest (NZZ 15. 8. 97). Ausschlaggebend für sie war schliesslich eine Ermunterung durch den schwedischen Spitzenläufer Jörgen Martensson. Die Jury setzte in der Folge beide Läuferinnen zeitgleich in den dritten Rang. Einerseits war die Differenz mit 0,17 s klein und entsprach einem Abstand von etwa einem Meter. Anderseits nahm die Jury, wie nachträglich zu erfahren war, doch einen Einfluss des Speakers an.
Dieser hatte Hanne Staff im rund 30 Sekunden dauernden Einlauf vom letzten Posten ins Ziel alle fünf Sekunden die verbleibende Zeit genannt - ein Verhalten, das schon tags zuvor von den Schweden kritisiert worden war. Der Veranstalter hatte Abhilfe versprochen, doch ging der Speaker seine eigenen Wege. Die Regeln schweigen zu diesem Punkt, und die Internationale OL-Föderation wird sie anpassen müssen. Analoge Beispiele sind bekannt, etwa im Skilanglauf. Ein ganz anderes Problem ist, ob man auch im OL von der manuellen Zeitauslösung und der Klassierung nach ganzen Sekunden zur rein elektronischen Zeiterfassung am Start und am Ziel übergehen will. Der Entscheid der Jury wurde durchwegs positiv beurteilt, denn er war diplomatisch gehalten und tat niemandem weh.
Neue Zürcher Zeitung vom 16.8.1997