RAINER SOMMERHALDER, GRIMSTAD
Was für ein Bild! Vier rot-weiss-rot gekleidete Frauen, Arm in Arm in die Kameras des schwedischen Fernsehens lächelnd, lassen sich von Gott und der Welt feiern. Engelsgleich flogen sie zuvor durch den norwegischen Wald. Nichts und niemand hielt das Schweizer Quartett davon ab, die so sehnlichst gewünschte und erwartete Staffel-Medaille an Land, oder besser aus dem Wald, zu holen. Begleitet vom Gebimmel des guten Dutzend Qualitäts-Kuhglocken «Made in Switzerland» der 200 mitgereisten Schlachtenbummler lief die Schweizer Staffel hinter Schweden und Norwegen zur Bronzemedaille.
Keine 50 Meter daneben liegt Alain Berger unter einem kühlenden Ahornbaum, und trinkt und trinkt und trinkt. Seine dänische Freundin Tine muss den zweiten Läufer der titelverteidigenden Schweizer Mannschaft trösten. Obwohl es die Schweiz war, die vor sechs Jahren eine neue Dimension in den Staffel-Wettbewerb hineinbrachte und das bisherige Aneinanderreihen von vier Einzelstreęken zur Teamsache erklärte, ist Berger in diesem Moment ganz allein, niemand kann ihm jetzt helfen. Trotz Teamspirit und Mannschaftstaktik sind die Zwischenzeiten brutal ehrlich auf jeden einzelnen Läufer fokussiert. Und diese verflixten Zeiten sagen vor allem eines: Die Schweiz hat ihr Gold auf der zweiten Strecke verloren. Und diese Strecke hat einen Namen: Alain Berger.
Keiner seiner Staffelkollegen wird ihm später einen Vorwurf machen. Am abschliessenden Bankett werden die Schweizer in Grabesstille nebeneinander sitzen, mit Mienen wie aus Stein gemeisselt. Als wäre etwas gestorben. Kein Finger zeigt auf Berger, aber dies ist auch nicht nötig. Der charmante Romand war in der Vergangenheit ein strahlender Sieger und ist jetzt ein ehrlicher Verlierer. «Daniel Giger hätte für mich die Staffel laufen sollen. Aber ich konnte das vor dem Lauf einfach nicht wissen. Ich hatte ein so gutes Gefühl, und dann, nach zwanzig Minuten, war alles vorbei.»
Im ersten Wettkampf dieser Woche erlitt Berger einen akuten Schwächeanfall. Die feuchtklebrige Hitze hatte seinen Schweissausstoss wieder auf Werte hinaufgetrieben, die gefährlich am Limit sind. Vier Liter verlor der Neuenburger während des Laufs, unmöglich in so kurzer Zeit wieder zu sich zu nehmen. «Nach diesem Montag war alles kaputt», sagt Alain, der sich vor einer Woche noch derart gut gefühlt hatte, als fliege er durchs Gelände. Nach der Dua thlon-WM in Zofingen, die er in hervorragender Position beendet hatte, fand er nie mehr die Spritzigkeit, die OL in der für ihn so erfolgreichen letzten Saison «zur einfachsten Sache der Welt» machte. «Es war ein Fehler, am Powerman mitzumachen. Diese Vorbereitung ist nicht OL-kompatibel. Aber eines sollen alle wissen. Der WM-Lauf hier war zehnmal brutaler als der Powerman in Zofingen.»
Während die Schweizer Männer in niederschlagender Härte spürten, dass in einer Individualsportart jeder Teamgeist beim Versagen eines einzelnen seine Grenzen hat, erlebten die Schweizer Frauen, wie elementar wichtig eine harmonische Gruppe für das Erreichen eines gemeinsamen Zieles ist. Die Schweizer Kaderläuferinnen galten stets als Mimosen, die divenhaft egoistisch ihre eigenen Ziele verfolgten.
«Die Staffel erschien mir manchmal als Wettkampf, der halt am Schluss auch noch kommt, als lästige Pflicht», sagt Sabrina Meister. Die 31jährige Schaffhauserin ist seit Frankreich 1987 ununterbrochen in der Staffel dabei. Für sie ging in Grimstad ein Traum in Erfüllung. «Wir haben immer gewusst, dass wir das Potential für eine Medaille haben. Bisher warteten wir immer auf die Fehler der anderen, um unsere Chance zu suchen. Diesmal spürten wir, dass wir es selber in der Hand haben. Wir liessen uns alle anstecken von diesem einmaligen Staffelfieber.» Ein Fieber, dass vor sechs Jahren aus den Schweizer Männern Weltmeister machte. In Grimstad war die Temperatur nun für einen Läufer zu hoch.
Aargauer Zeitung vom 18.8.1997