RAINER SOMMERHALDER
Lange hat die Schweizer Teamleitung gezögert, bei der Jury einen Protest einzureichen. Zwar empfand man das Mitzählen des norwegischen Speakers mit der einlaufenden Hanne Staff als ungerecht, wie aber wollte man die eine Sekunde Rückstand der viertplazierten Marie-Luce Romanens damit wegzaubern? Es brauchte schon die Rückendeckung des schwedischen OL-Superstars Jörgen Martensson, der ins Lager der Schweizer kam und ihnen zum Protest riet, bis die Betreuer zur Tat schritten.
Mit Erfolg: Die Jury hiess den Protest gut, korrigierte die Zeit der Schweizerin um eine Sekunde und verteilte an der Siegerehrung doppelt Bronze. Die Begründung war ein typischer Kompromiss und tat niemandem weh: Die Zeiten der beiden Läuferinnen lagen nur um 17 Hundertstel auseinander. Streng nach Reglement wäre diese Formulierung allerdings nicht haltbar. Ein Schatten auf der Schweizer Medaille? Marie-Luce Romanens gab darauf Auskunft.
Wie gross ist Ihre Freude über die nachträgliche Bronzemedaille?
Marie-Luce Romanens: Es ist klar, dass die Freude etwas gedämpft war, vorab durch das lange Warten und die Unsicherheit. Ich habe nach meinem WM-Titel vor zwei Jahren allerdings gemerkt, dass die grosse Freude sowieso erst zu Hause kommt, wenn man realisiert, dass andere Menschen auch den Plausch an dieser Leistung haben.
Sie haben unmittelbar nach Zieleinlauf einen gefassten Eindruck gemacht. Trotzdem hatte ich das Gefühl, diese Sekunde tat unglaublich weh?
Romanens: Zuerst habe ich zweimal leer geschluckt, dann ist es einigermassen gegangen. Ich habe mir eingeredet, es sei eine Frage von Glück und Pech. Vor zwei Jahren beim Titelgewinn hatte ich Glück, diesmal halt einfach Pech. Danach ist es je länger, desto schlimmer geworden. Als ich erfahren habe, wie die Sache gelaufen ist, fand ich es auch zusehends ungerecht.
Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie vor der Türe sassen und auf die Jury-Entscheidung warteten?
Romanens: Ich habe immer gehofft. Eigentlich war ich ziemlich entspannt, denn ich wusste ja, dass es nicht schlimmer werden konnte. Die grosse Enttäuschung vom Nachmittag war vorbei. Klar war der Augenblick hart, als die Türe aufging und ich genau wusste, dieser Mann dort wird jetzt dann gleich die Entscheidung bekannt geben.
Können Sie dieses Bronze jetzt als echte Medaille akzeptieren?
Romanens: Ja ich glaube schon. Da kann ich voll dahinter stehen. Natürlich werde ich diese Vorfälle nicht vergessen. Meine Leistung jedoch war sehr gut und deshalb habe ich nicht das Gefühl, ich hätte Bronze nicht verdient.
Diesen nicht alltäglichen Vorfall muss man zuerst einmal verarbeiten. Wie steht es mit der Vorbereitung auf die heutige Staffel, in der die Schweizerinnen Titel kandidat sind?
Romanens: Ich habe mir schon vor der WM eine Zeitlimite gesetzt. Bis zum gestrigen Mittagessen habe ich mich noch mit der Kurzstrecke beschäftigt. Seither gilt nur noch die Staffel, habe ich keine Interviews mehr gegeben und keine Analysen mehr gemacht. Das verschiebe ich auf die Zeit nach der WM.
Sie sind seit gut zwei Jahren die Lebens partnerin des Aargauers Thomas Bührer, dem stärksten Schweizer OL-Läufer. Können Sie aus dieser Beziehung auch sportlich profitieren?
Romanens: Ich kann sogar sehr viel profitieren. OL ist bei uns ein alltägliches Thema. Wir trainieren auch öfters zusammen und dabei kommt mir Toms grosse Erfahrung sehr entgegen. Vor dieser WM war ich zudem ziemlich verunsichert und da half es natürlich, dass man mit jemandem darüber sprechen kann.
Aargauer Zeitung vom 16.8.1997