Die Schweizer Hoffnungen auf eine Einzelmedaille an den Weltmeisterschaften ruhen auf Thomas Bührer und Marie-Luce Romanens. Die «Orientierungslauf-GmbH» des Athleten-Paares gilt als heisser Medaillenanwärter. Die beiden Teamleader verfügen über einen beachtlichen Leistungsausweis auf der Kurzstrecke.
Die 24jährige Biologie-Studentin Romanens geht heute immerhin als Titelverteidigerin in den norwegischen Wald. Vor zwei Jahren in Deutschland holte sie den ersten OL-Einzeltitel für die Schweiz überhaupt. Rein sportlich hat sich dieser Titel im folgenden Jahr eher negativ ausgewirkt. «Ich fühlte viel mehr Druck und meinte, ich müsse diese Leistung bei jeder sich bietenden Gelegenheit bestätigen. Je länger die Resultate dann ausblieben, desto grösser wurde der Stress.»
Die mentale Ebene und eine hartnäkige Fussverletzung im Winter verursachten bei der Freiburgerin eine gewisse Verunsicherung. Weil 1997 vor der WM internationale Vergleiche weitgehend fehlten, wusste Romanens vor der WM überhaupt nicht, wo sie steht. Spätestens nach dem hervorragenden 9. Rang im klassischen Wettkampf, den sie selber höher einstuft als den 8. Platz vor zwei Jahren in Deutschland, ist diese Unsicherheit einer grossen Entschlossenheit gewichen.
Die Unsicherheit abgelegt
Selbst die Favoritenrolle als Titelverteidigerin bereitet ihr keine Bauchschmerzen mehr, macht die begnadete Läuferin nicht mehr nervös. «Ich weiss jetzt, dass ich es kann und wie ich laufen muss, um gut zu sein. Das nimmt viel Stress weg. Ein Teil des Druckes bleibt natürlich. Denn schliesslich zählen nicht Gefühle, sondern einzig die Resultate.»
Wie seine Lebensgefährtin hat auch der Endinger Thomas Bührer in den letzten Tagen seine Unsicherheit abgelegt. Nach den monatelangen Intermezzi mit verschiedenen Verletzungen konnte er erst seit einem Monat beschwerdefrei trainieren und musste den physisch anspruchsvollen klassischen Einzellauf über beinahe 2 Stunden vernünftigerweise auslassen. «Einerseits erzeugt die Tatsache, dass ich in diesem Jahr in den Einzelkonkurrenzen nur eine Chance auf eine Topleistung habe, doch etwas Druck. Anderseits kann ich dafür sehr viel Energie in dieses Rennen stecken. Ich bin besser auf die Kurzstrecke vorbereitet als vor zwei Jahren und fühle mich sehr, sehr entschlossen.» Zur Erinnerung: Vor zwei Jahren an der letzten WM lief Bührer auf Rang 4.
Eine Medaille von ihm zu erwarten ist vor allem aufgrund des auf die Skandinavier zugeschnittenen Terrains hochgegriffen. Der 29jährige Surbtaler selber gilt als Realist und nicht als Mann grosser Töne. Was er sagt, hat Hand und Fuss.
Seine Einschätzung vor zwei Jahren, dass die Schweizer körperlich hinter den Skandinaviern herhinken würden, hat sich im klassischen Einzellauf, der an die Grenzen der physischen Leistungsfähigkeit ging, erneut bestätigt. Für seine heutigen Möglichkeiten gibt er sich erstaunlich angriffig: «Weil die läuferische Basis bei mir fehlt, sind Schwankungen in der Tagesform viel eher möglich. Sollte ich hier in einem Wettkampf einen schwachen Tag einziehen, dann muss ich das akzeptieren, weil ich es nicht ändern kann. Technisch hingegen fühle ich mich optimal vorbereitet. Ich habe das norwegische Gelände im Griff und erwarte von mir einen fehlerlosen Lauf. Ich habe mir resultatmässig eine sehr hohe Messlatte gesetzt.» Wer weiss, vielleicht bleibt der WM-Titel ja in der «Familie».
Aargauer Zeitung vom 16.8.1997