Zweimal Gold und Bronze für Gastgeber Norwegen, zweimal Silber für Erzrivale Schweden - die Medaillen blieben im klassischen Einzellauf der OLWeltmeisterschaften in Grimstad in skandinavischer Hand. Gäbe es eine Mannschaftswertung, dann hätte diese das kompakt starke Schweizer Frauenteam gewonnen.
Noch nie erreichte ein Team der Schweizerinnen eine derart gute Gesamtleistung an einem klassischen WM-Lauf wie gestern in Grimstad. Mit den Rängen 7 (Sabrina Meister-Fesseler), 9 (Marie-Luce Romanens), 10 (Vroni König) und 12 (Brigitte Wolf) wiesen die Schweizerinnen eine Dichte im ersten Dutzend auf, wie sie trotz Heimvorteil nicht einmal die Nordländer hinbrachten. Kein nichtskandinavisches Land kam auch nur annähernd auf eine ähnliche Bilanz. Während Kurzstrecken-Weltmeisterin Romanens bis zur Zwischenzeit nach Streckenhälfte sogar noch Medaillenchancen hatte, liefen die drei anderen Schweizerinnen vorab im zweiten Teil hervorragend.
Bei der Zeitmessung nach Hälfte der Distanz lagen nicht weniger als neun Konkurrentinnen innerhalb von 120 Sekunden, im Ziel bei einer Gesamtzeit von knapp 73 Minuten fielen die Abstände dann bedeutend grösser aus. Romanens spürte im zweiten Streckenteil, dass sie stark unterwegs war, «und das hat mich ein wenig gestresst. In der Folge wurde ich auf der Karte zunehmend unsicher und zögerte mehrere Male. Eigentlich unerklärlich.»
Sabrina Meister durfte für sich in Anspruch nehmen, den Kampf um den WM-Titel zwischen der Norwegerin Hanne Staff und der bei Halbzeit noch vor ihr liegenden Schwedin Katarina Borg mitentschieden zu haben. Während Borg die Strecke alleine bewältigen musste, holte Staff Borgs Landsfrau Gunilla Svard und Meister ein. Das Trio harmonierte bestens, lief zusammen schnell und sicher. Die neue Weltmeisterin profitierte auch von der Führungsarbeit der Schweizerin, die sich läuferisch sehr gut fühlte und trotz Bedenken nach der Einholung mit den zwei WeltklasseLäuferinnen locker mithielt. Keine der Medaillengewinnerinnen stand bei einer Einzel-WM je zuvor auf dem Podest.
Das Ranglistenbild bei den Frauen und den Männern zeigt eindrücklich auf, dass den Skandinaviern in ihrem Terrain niemand gewachsen scheint. Speziell die Norweger nutzten den Heimvorteil resolut aus und sicherten sich nach 1989 (Männer) und 1978 (Frauen, ebenfalls in Norwegen) erstmals wieder KlassischGold.
Geschichte schrieb der neue Weltmeister Petter Thoresen. Als erster männlicher Orientierungsläufer holte er sich zum dritten Mal den WM-Einzeltitel. Mit einem kleinen Abstrich allerdings: 1993 in den USA auf der Kurzstrecke, die es erst seit sechs Jahren gibt. Trotzdem erstaunlich, dass der «klassische» Weltmeister denselben Namen trägt wie bei der letzten skandinavischen WM 1989 in Schweden. Für ihn eine besondere Genugtuung nach internen Verbandsstreitereien um einen Sponsor und einem selbstgewählten Exil in der WM-Vorbereitung. «Ich wusste vor der WM wirklich nicht, wo ich stehe. Nun ist es zwar nicht mein bestes Rennen, aber mein schönstes Gefühl nach einem Rennen.»
Während Thoresen für die Norweger Geschichte schrieb, ist der Silbermedaillengewinner Teil der Geschichte. Der 38jährige Jörgen Martensson ist seit zwanzig Jahren der Inbegriff des Orientierungslaufens. Als elffacher WM-Teilnehmer sprengt er jegliche Dimension, und noch besser sind dabei seine Leistungen. Bei seinem ersten WM-Start 1978 landete er auf Rang 8. Danach folgten die Ränge 15, 6, 11, 4, 4, 5, 1, 2, und 1 vor zwei Jahren in Deutschland. Seinen Titel konnte er zwar nicht verteidigen, mit dem zweiten Rang durfte der Schwede aber mehr als zufrieden sein, besonders, weil ihn eine Fersenverletzung in der unmittelbaren Vorbereitung stark behinderte.
Der Schwede kritisierte den erstmals auf zwei Minuten angesetzten Startintervall, der bei einer Siegerzeit von über 100 Minuten zu etlichen Läufergruppen führte. «Ich glaube, der Weltmeister wäre der gleiche, die Reihenfolge der Rangliste aber eine andere, wenn wir den üblichen 3-Minuten-Rhythmus beibehalten hätten.» Die Versuche der Verbandsverantwortlichen, den Orientierungslauf publikumsnäher zu machen und ihn in Richtung «Olympiasportart» zu steuern, kommen vorab bei den Athleten nicht unbedingt an. Auch die Schweizer Läufer zeigten sich wenig begeistert über den neuen Startintervall. Mit Dominik Humbel war zum dritten Mal in Folge ein Aargauer bester Schweizer WM-Teilnehmer, sein Rang 16 konnte aber nicht mit dem eigenen sechsten Platz vor vier Jahren in den USA mithalten und erst recht nicht mit den Zielsetzungen des Schweizer Teams. «Trotzdem war das Gefühl weitaus besser, als es die Rangliste aussagt. Ich bin den ganzen Wettkampf alleine gelaufen. Wenn man die Athleten einmal beiseite lässt, die nur anderen nachgerannt sind, wäre ich wohl nahe bei diesem zehnten Rang, den ich mir als Ziel gesetzt hatte.» Ihm sei allerdings als alleinlaufender 16. wohler, als wenn er wie etwa der Tscheche Prokes (5. Rang) ein ganzes Rennen lang nur einem starken Mitläufer gefolgt wäre.
Das Schweizer Teamresultat der Männer kompromittiert die Chancen bei der Staffel-Titelverteidigung auf den ersten Blick. Allerdings gilt es dabei zu bedenken, dass die Leistung im klassischen Einzellauf vor zwei Jahren im «Schweizer» Gelände in Detmold (De) ähnlich in die Hosen ging. Damals landete Thomas Bührer als bester Schweizer auf dem 15. Rang. Morgen im Kurzstrecken-Rennen - mit Bührer und Humbel - besteht die Gelegenheit zur Revanche. Favoriten bleiben jedoch die Norweger und Schweden.
Aargauer Zeitung vom 16.8.1997